Dienstag, 1. November 2011

9 1/2 Monate

288 Tage in Aotearoa, dem Land der langen weißen Wolke, liegen hinter mir. Nachdem ich wieder festen deutschen Boden unter den Füßen habe und genügend Zeit hatte, um die vergangenen Monate Revue passieren zu lassen, ist er nun endlich da: mein allerletzter Reiseblogeintrag!





Auch wenn es kitschig klingt, aber ich erinnere mich daran, dass ich als Kind von einem Land träumte, in dem ich innerhalb kürzester Zeit von Nord nach Süd und von West nach Ost reisen könnte und völlig verschiedene Landschaftsformen vorfinden würde. Hier die Berge mit ganz viel Schnee zum Iglu-Bauen, dort der Strand zum Wellenbelauschen. Erst wünschte ich mir die Märchenszenerie mit verschlafenen Wäldern und Seen, dann fand ich Gefallen an der typischen Ruhrgebietslandschaft: saftig grüne Hügel, durchbrochen von Überbleibseln des Kohlezeitalters - ein Paradies zum Klettern, Heruntoben und Unsinn machen.
Vieles davon (und noch viel mehr) habe ich in diesen neuneinhalb Monaten entdeckt: Berge, Täler, Schluchten, Höhlen, Flüsse, Seen, Meere, Fjorde, Gletscher, Strände, Buchten, Seen, Lagunen, Wälder, Dschungel, Felder, Wüsten, Vulkane und Krater. Vom Land, vom Wasser, aus der Luft, zu Fuß, mit dem Auto, dem Bus und dem Quad, mit dem Ruder-, Motor- und Paddelboot, mit dem Flugzeug, auf dem Trampolin und am Fallschirm baumelnd habe ich Neuseeland erkundet, bestaunt und angelacht.



Doch meine Reise ans andere Ende der Welt hat mich nicht nur nach Neuseeland und später Australien geführt. Durch die Menschen, die mir begegnet sind, habe ich Ausflüge nach England, Irland, Schottland, Schweden, Finnald, Estland, Tschechien, Frankreich, Portugal, Belgien, Österreich, in die Schweiz, nach Südafrika, Saudiarabrien, China, Japan, Nepal, Kambodscha, Indien, Thailand, Vietmnam, Afghanistan, Indonesien, Fihi, Tonha, Argentinien, Brasilien, Chile, in die USA und nach Kanada unternommen. All diese Reisebekanntschaften haben mich beeinflusst, geprägt und verändert, deswegen sollen die, die mir im Gedächtnis geblieben sind, hier noch einmal Erwähnung finden:

  •  April und Martin, meine Sitznachbarn aus dem Flugzeug und erste Mitfahrgelegenheit in Neuseeland 

  • Jeanette aus Bonn: meine erste Reisepartnerin, die mich mit ihren Kochkünsten und ihrem Humor begeistert hat, sich aber selten traute, mal so richtig draufloszulachen

  • Daniel, der trotz schmerzhaft viel Potential irgendwann an seiner Depressivität ersticken wird - und mich dennoch so fasziniert hat, dass ich ihn am liebsten von seiner Insel aufs Festland geholt hätte

  • Leonie: das Kölsche Gute-Laune-Mädl mit ganz viel Kraft in den Armen, noch mehr Zweifeln und am meisten Worte, um ihre inneren Konflikte auszudrücken

  • Ve, die mir deutsche Landwirtschaft anhand neuseeländischer Melkstände erklärt hat und die nie um eine freche Antwort verlegen war. Von ihr habe ich mich zum Caving, Whitewaterrafting und Tongariro Crossing im Regen überreden lassen

  • Dejan, der mich sowohl als Tennis- als auch als Gesprächspartner mit seiner philosophisch-provokativen Art ganz schön gefordert hat

  • Kairi und Karel, die mir gezeigt haben, wie man mit 13kg Backpack und so wenig Geld wie möglich reisen kann 

  • Zuzi und Nadja: die tschechischen Entscheidungsphobiker, mit denen man herrlich ablästern konnte

  • Luci, mit der ich erst zwei Tage aufeinanderhocken musste, um sie zu mögen, die mir dann aber beigebacht hat, wie man feiert


  • Adam und seine Freunde: ein zünftiger Junggesellenabschied auf neuseeländisch

  • Jason, der mir die Fotos zu meinem Fallschirmsprung geschenkt, mich aber mit seinen nächtlichen Übungen um den Schlaf gebracht hat

  • Ruth: Englischlehrerin, längste Reisepartnerin, Djane, Lockendreherin. Lieblingszitate: "true that" und "Nina, Nina, Ninaaaaaa"

  • Phil, der große Maori mit den guten Schwimmkenntnissen und dem Gespür für alternative Freizeitgestaltung

  • Mike, mein großer Adoptivbruder mit unverhörbar britischem Akzent, der mich und mein Auto auf den Weg gebracht hat

  • Chris, der wechselweise Opossums oder sich selbst (ab)schießt

  • Elliot, der mir Taupos "hot spots" gezeigt und Wollmützen tragbar gemacht hat. Leider ist bei der Hasenjagd im Van sein Handy ertrunken...

  • Kay und Darren: meine Chefs im Taste Café, die mich zu einem fabelhaften Weihnachtsessen ausgeführt haben
  • Kathy und Lieza: meine Mentoren (und Sponsoren) in der Küche und Ideengeberinnen für meinen neuen Spitznamen "Nina, the ballerina"

  • Namit und DJ: "the indians" haben gezeigt, dass man Jungs, ähm pardon, Männer manchmal nicht so ernst nehmen muss

  • Maria: meine Wanderpartnerin aus Argentinien, der ich meinen Job auf dem Weinberg aber leider auch die schlimmste Hostelerfahrung zu verdanken habe.

  • Ruby, die behauptete, sie würde stottern, wenn sie aufgeregt sei. Mit mir hat sie immer ganz normal gesprochen.

  • Ricardo, Spitzname Avocado, der uns ein Silvesterfeuerwerk beschert hat

  • Josephine, die mir bei einem Nachmittagsspaziergang Neurobiologie erklärt hat

  • Adam, von dem ich den fahrbaren Untersatz für meinen Roadtrip durch Neuseeland gekauft habe
  • Darren, dank dem ich mir kein "lemon car" (Schrottkiste) habe andrehen lassen
  • Marie und Micha, die wegen des schlechten Wetters eine ganze Woche mit mir auf der Couch gesessen und dem Regen zugehört haben
  • Kevin aus Portland, Oregon: mein ehrgeizigster Englischlehrer, talentierter Fotograf und Ruhepol

  • Ramona: mein "härtester Fall" von anfänglicher Antipathie und schließlich mitleidiger Sympathie

  • Maria: mein erster Wwoofing-Host, deren Gemüsebratlinge immer eine gute Alternative für Veggieburger waren

  • Jörn: der passende Fotograd zu meinem Reportertrip zur Vulkaninsel White Island

  • Monique: die schwäbische Ausgabe einer rheinischen Frohnatur, die mir Spontaneität beigebracht und mit dir die Coromandel Halbinsel erkundet hat

  • Jerah: ein winziger Lichtblick inmitten der Abgeschiedenheit. Dank ihm kann ich auf der lebenslangen To-Do-Liste ein Häkchen hinter "Fisch fangen" setzen

  • Kimberly: die echt amerikanische Collegestudentin, mit der ich Quad fahren und WGs besichtigen durfte

  • Fraser, der mir den Tipp für einen der schönsten Strände gegeben und mich mit seiner großen kanadischen Klappe zum Lachen und Träumen gebracht hat

  • Jerry: mein zweiter Wwoofing-Host, der für den "guten Arbeiter" die "guten Sandwichs" zubereitet hat und der mir nach tagelanger Überredung endlich seine Küche zur Verfügung gestellt hat - ohne es zu bereuen

  • Patrick: der wohl sensibelste, liebenswerteste, aber auch kritischste Junge, den ich auf meiner Reise über die Südinsel getroffen habe. Lieblingsgeste: trinken mit beiden Händen

  • Nick, ein netter Holländer (!), der guten Wein und kostenlose Kajaks genau wie ich zu schätzen wusste

  • Reddy: mein Boss bei der Weinernte, dem ich beim Traubenpflücken leider immer zu langsam war, aber wenigstens schnell genug, wenn es um das Aufdecken von Vorurteilen ging
  • meine Kollegen aus Tonga, denen ich zu verdanken habe, dass noch alle zehn Finger dran sind

  • Phil: der britische Kniestrumpfträger, mit dem unmöglich zu verstehenden Akzent und dem grandios trockenen Humor, Stichwort: Gelassenheit

  • Sun: der positivste aber auch verrückteste Mensch, den ich je kennengelernt habe. Seine niemals endenden Energiereserven und die Entwicklung der Richterskala zum Bestimmen von Hungerzuständen haben mich nachhaltig geprägt

  • Paul aus der hässlichsten Stadt Neuseelands (Invercargill), der mir meine Kamera erklärt hat
  • Dean, der lebende Beweis, dass Schönheit und Arroganz nicht unbedingt Hand in Hand gehen

  • die Partycrew aus Queenstown, die dafür gesorgt hat, dass ich vier Tage hintereinander feiern war

  • Maria: meine finnische Zimmergenossin und Vertraute in Kinloch, mit der ich Stunden im Spapool und vor romantischen Komödien verbracht habe

  • Richard mit dem "sophisticated accent", der Lagerfeuerschulter und der beeindruckenden Loyalität

  • Debbie, die sich weder barbiemäßig angestellt noch jemals ein böses Wort gesprochen hat, dafür aber immer gut aussah - selbst in hellblauer Schlabberhose
  • James alias Ken: Adoptivbruder Nr. 2, den ich am liebsten in meinen Rucksack gepackt und mitgenommen hätte. Lieblingszitate: "Look after your pennies and the pounds look after themselves!", "Nina, you're the funniest german girl I ever met" (Komplimente ziehen immer)

  • John und Tony, die es beeindruckenderweise managen, drei Kinder, zwei Ferienbetriebe, ein Restaurant, einen Shop und immer neue Wwoofer unter einen Hut zu kriegen, dabei aber leider vergessen, das Engagement ihrer Mitmenschen angemessen zu wertschätzen
  • James, Lucy und Sam: drei Kiwikinder mit beneidenswerter Offentheit gegenüber Fremden und einer pathologischen Bessenheit von Harry Potter PC-Spielen

  • Delilah und Samson: die freundlichsten Hunde in ganz Neuseeland

  • Al: der grimmig dreinblickende aber im Herzen gute Nachbar und Gitarren- bzw. Gesangslehrer
  • Alejandro, Spitzname Alex, der bei seiner Behauptung geblieben ist, ich hätte einen lustigeren Akzent als die Argentinier

  • Aine, Amanda und Edel: meine irischen Gastgeberinnen und Gute-Laune-Schlafanzug-Granaten aus Queenstown

  • Terry: Koch, Tänzer, Lederjackenträger, Housekeeper
  • Andreas: kleines bayrisches Unikat mit "alte-Leute-Ausdrücken" und verschmusten Humor
  • Lydie, Jen und Paul, dank denen ich nun meinen Serpentine-Anhänger als Souvenier um den Hals trage



  • Shota: der japanisch Küchen-, Lebens- und Leinwandkünstler aus dem Radiohostel in Karamea

  • Felix, der schlaue Fuchs, mit dem ich nach Monaten akademischer Abstinenz mal wieder eine richtig schön spießige Diskussion über wissenschaftliches Arbeiten geführt habe

  • Lydith und Simon mit denen ich in Skiunterwäsche Rezepte getauscht und Cookies gebacken habe
  • Frank, der mich zum Abschiedsessen eingeladen hat; das frechste Zahnlückengrinsen eines Gentlemans und irischen Geschichtenerzählers, das man in diesem Land finden kann

Bei all diesen neuen Eindrücken hat jedoch eines gefehlt: ein Zuhause. Jemand, auf den man sich verlassen kann, egal, worum es geht. Menschen, mit denen ich gemeinsam staunen und mich freuen konnte, waren zwar meistens in der Nähe, aber niemand, der mich länger als ein paar Wochen kannte. Der wusste, wann ich eine Umarmung und wann einen Tritt in den Hintern brauche. Genau auf diese Vertrautheit, diese Sicherheit habe ich mich vor meiner Rückkehr in die Heimat am meisten gefreut. 
Und: auf die kleinen Annehmlichkeiten des Alltagslebens: mein eigenes Bett; mein eigenes Zimmer, zu dem ich auch mal die Tür zumachen kann; einen Kleiderschrank; eine Nachttischlampe (und die Möglichkeit, so lange wachzubleiben, wie ich will); meinen Radiowecker, bei dem ich das Gedudel eine halbe Stunde laufen lassen kann, ohne jemand anderen zu stören; unbegrenztem Internetzugang; nicht aus einer Tasche kochen zu müssen; unbeschwert barfuß in meiner Wohnung rumlaufen zu können; mit dem Fahrrad über die Hamburger Autobahnbrücke zu fahren. Natürlich habe ich auch deutsches Brot vermisst, aber so fängt man an, sein eigenes Brot zu backen. Aldi; Tankstellen, bei denen man noch mit echten Menschen anstatt einem Automaten spricht; die Vielfältigkeit der deutschen Sprache und ein Drei-Komponenten-Essen (Fleisch, Beilage, Gemüse) anstatt der ewigen Pasta mit Tomatensauce...
Was mir fehlen wird sind die die praktischen Heißwasserboiler, die Büchertauschregale aus den Hostels und die ständig neuen Bekanntschaften. Ebenso saubere öffentliche Toiletten an jeder Ecke, die lässige Cafékultur und vielleicht sogar das ekelhaft fettige Fish and Chips (neuseeländisch "fishnchippies").
Am meisten werde ich jedoch die Neuseeländer mit ihrem "You'll be alright, no worries, mate!" vermissen, mit ihrer Entspanntheit und ihrem in-den-Tag-Hineinleben, das mir geholfen hat, die deutsche Hamsterradkultur kritisch zu hinterfragen und meine eigene Ernsthaftigkeit in Sachen Karriereleiterhinaufklettern zu relativieren. Ich hoffe, dass ich ein großes Stück dieser Lockerheit mitnehmen und bewahren kann. Das wäre das wohl schöneste Souvenier, das man sich wünschen kann...