Sonntag, 19. Juni 2011

In charge

Toni und John brauchen Urlaub. 
Zunehmend gestresst und ein wenig blaesslich haben sich unsere Herbergseltern durch die Hauptsaison geackert - jetzt ist Erholung angesagt. Doch mit einem eigenen Business, mehreren Haustieren und diversen akuten Baustellen faellt das Nehmen einer Auszeit nicht leicht. Es sei denn, man hat fuenf kompetente und aufgeweckte Wwoofer vor Ort. Eine Bar voller Spirituosen, eine Kasse mit 200 Dollar Wechselgeld und nicht zu vergessen die volle Zustaendigkeit fuer einen Tourismusbetrieb an eine Hand voll Backpacker zu uebergeben, die man gerade mal ein paar Wochen kennt, finde ich mutig, um nicht zu sagen waghalsig. "But that's the Kiwi way of life! No worries, everything'll be alright! You're in charge now" - beruehmte letzte Worte eines Hostelbesitzers.
Am Abend bevor unsere Gasteltern samt Kindern nach Australien "abhauen", essen wir alle gemeinsam im Restaurant. Einer seltsamen Intuition folgend gebe ich dem Drang nach, in der Backpackerlounge nach dem Rechten zu sehen. Zum Glueck. Es qualmt, es stinkt, es brennt. James hat beim Entfachen des Feuers die Plastikhuelle der Anzuender auf dem Kamin liegengelassen. Ich reisse alle Fenster und Tueren auf, entsorge die schmorende Verpackung und kehre die Asche zusammen. Trotz bester Verschleierungsmassnahmen riechen Toni und John Lunte und sind - verstaendlicherweise - gar nicht begeistert. Kein guter Start fuer unsere Verantwortlichkeit ueber die Lodge. Ich bin ziemlich geknickt und fuehle mich - trotz innerem Fruehwarnsystem - schuldig. Nach einer Umarmung von James geht's dann aber wieder besser. Bloss nicht persoenlich nehmen, rede ich mir ein. "Everything'll be alright!"

Am ersten Tag der Wwoofer-Wirtschaft geht dann aber - natuerlich - alles schief, was schief gehen kann:

  • Eine (weitere) Waschmaschine gibt des Geist auf. Somit bleibt von vier moeglichen nur noch eine funktionierende uebrig.
  • Sowohl Huehner als auch Meerschweinchen buechsen aus ihrem Freiluftgehege aus und muessen in einer filmreifen Verfolgrungsjagd wieder eingefangen werden. Dabei stellt sich das Federvieh ist so bloed an, dass es noch nicht mal nach Hause findet, als wir es wild gestikulierend in die richtige Richtung treiben.
  • Der Familienvan mit dem Anhaenger zum Einsammeln der Muelltonnen hat einen Platten. So platt, platter geht's nicht. 
  • meine groesste Sorge: Die Stimmung geht den Bach runter. Ich bekomme (verdientermassen) einen auf den Deckel, weil ich mich in Debbies und James' Kochaktion einmische; Maria geht mir mit ihrem "Ich-habe-immer-Recht-Gehabe" ein wenig auf die Nerven und Richard weigert sich, die Tiere anzufassen, geweige denn zu fuettern oder zu umsorgen, was zur Folge hat, dass
  • die Hunde (verwirrt und zu lange ins Haus gesperrt) in ihrer Verzweiflung ihr Geschaeft auf dem Teppich verrichten. Na prima, wenn das so weitergeht...
Am naechsten Tag klappt alles - dank einem dezidierten Aufgabenplan - schon deutlich besser. Trotz fehlender Einweisung in das Buchungssystem gelingt uns schliesslich das Einchecken und Abrechnen neuer Gaeste; James braucht zum Oeffnen der "Honesty-Box" auf dem angrenzenden Campingsplatz dieses Mal nur zehn anstatt zwanzig Minuten (und findet sogar ein paar "ehrliche Muenzen"); beim Kochen, Tisch decken und Abspuelen helfen dieses Mal alle mit; Katze, Hunde, Huehner und Meerschweinchen quieken vergnuegt und ich ueberwinde endgueltig mein Stimmungstief.

In den folgenden Tagen fangen wir an, unsere Verantwortlichkeit zu geniessen. Endlich koennen wir unseren eigenen Kurs fahren; ich schwinge munter den Kochloeffel, probiere jeden Tag ein neues Rezept aus und begluecke meine Kollegen mit Schinken-Kaese-Quiches, einer exquisiten Tomatencremesuppe, Zitronenkuechlein und Minipavlovas. 
Leider muessen wir nun auch mit seltsamen "Walking-Guests" jonglieren, die schnell mitbekommen, dass der Besitzer nicht vor Ort ist und somit meinen, uns auf der Nase rumtanzen zu koennen. Vier Kiwi-Jungs, die am Vorabend eine Party in der Backpackerlounge gefeiert haben, muessen wir am naechsten Morgen buchstaeblich aus den Betten werfen. Obendrein haben die Herren einen absoluten Saustall hinterlassen: heruntergerissene Vorhaenge, undefinierbarer Dreck in der Spuele, stapelweise leere Bier- und Wodkaflaschen, auf den Boden geworfene Handtuecher in den Toiletten. Nachdem wir die Dreckssaeue endlich aus dem Zimmer gekehrt haben, fangen sie an, in der (bereits geputzten) Kueche Speck und Eier zu braten - natuerlich unter der Benutzung moeglichst vieler Teller, Toepfe und Pfannen. Haette ich die alleinige Verantwortung, wuerde ich die Idioten hochkant rausschmeissen. James und Richard sind jedoch nachgiebiger mit ihren Geschlechtsgenossen und druecken beide Augen zu. 
Zum "Runterkommen" verziehe ich mich am Nachmittag mit der Gitarre und dem Selbstlernbuch, das ich per Post von zu Hause geschickt bekommen habe, in den beheizten Fernsehraum und uebe D-, G, A, und E-Akkorde. Das klappt mit der Anleitung auf der beiliegenden DVD schon ziemlich gut. Nach dem Abendessen gehen Maria und ich rueber zu Nachbar und Vollblutmusiker Al, der mir ein paar neue Griffe zeigt und Maria und meinen Gesang schliesslich auf der Gitarre begleitet. Mit Beatles-Klassikern, Tracy Chapman Songs und einer Tasse Tee wird es ein richtig netter, entspannender Abend.
Zur Halbzeit unseres "Wir-haben-eigentlich-keinen-blassen-Schimmer-was-wir-hier-tun-Managements" faengt sich die halbe Mannschaft den Kinloch-Virus ein. James hat eine Mandelentzuendung und muss zum Arzt nach Queenstown gefahren werden, Debbie klagt ueber Muedigkeit und Halsschmerzen und auch mein inneres Gleichgewicht geraet gehoerig ins Wanken: An dem Tag, als die komplette Lodge mit einer Wandertruppe aus den USA ausgebucht ist, befallen mich Kopf- Glieder- und Bauchschmerzen. Ausgerechnet jetzt, wenn extra viel Arbeit ansteht... Nicht nur, dass wir 42 Betten zu machen haben, ausserdem muessen Maria und ich umziehen - nicht genug Platz fuer drei Angestelltenraeume. Nachdem ich meine Sachen von meinem in Richards Zimmer geraeumt habe, bekomme ich Schuettelfrost und eine heisse Stirn. Selbst ein Last-Minute-Bad im Spa-Pool kann mich gerade mal fuer zehn Minuten aufheizen, dann fange ich wieder zu bibbern an. Ohne einen einzigen Bissen von Debbies phanastisch aussehenden Schokoladenbrownies probiert zu haben (ein sehr eindeutiges Zeichen, dass etwas nicht stimmt!), ziehe ich alle meine Klamotten uebereinander an und rolle mich in drei Decken ein. Natuerlich ist um acht Uhr abends an Schlaf nicht zu denken. Zaehneklappernd stoepsele ich mir den MP3-Player in die Ohren und presse meine steifgefrorenen Zehen gegen die Waermflasche. Irgendwann erloest mich meine Erschoepfung und laesst mich in einen unruhigen Schlaf voller Alptraeume fallen.

Tags drauf fuehlt sich mein Kopf zwar immernoch wie ein Fussball an und in meinem Magen rumort es geraeuschvoll, aber es hilft nichts. Ich muss ran. Meine einzige Motivation ist die Aussicht auf eine Nacht in einem der grossen Doppelbetten in der Luxus-Heritage-Lodge. Warum sollen wir es uns nicht gut gehen lassen, waehrend wir von morgens bis abends roedeln? Gegen sechs Uhr lasse ich alle Waeschekoerbe und Putzlappen fallen, schmeisse eine zweite Schmerztablette ein und ziehe in mein Einzelzimmer (!) mit der dicken, warmen Bettdecke und der Garderobe samt weisser Bademaentel.
Einige Tage spaeter geht es gesundheitlich und stimmungsmaessig fuer uns alle wieder aufwaerts. Der Urlaub der Familie Glover naehert sich dem Ende und somit auch die Zeit unserer Verantwortlichkeit. Doch wie so oft im Leben kommt alles anders als man denkt. Mal wieder haben wir die Rechnung ohne die Natur gemacht; mal wieder beeintraechtigt ein Ereignis Neuseelands Infrastruktur, mit dem keiner gerechnet hat. Die Aschewolke aus Chile ist ueber den Pazifik geweht und blockt jeglichen Flugverkehr zwischen Australien und Neuseeland. John, Toni und die Kids sitzen an der Goldcoast fest. Keiner von uns ist wirklich begeistert von dem Gedanken, weiterhin (auf unbestimmte Zeit) den Laden zu schmeissen - vor allem, da uns langsam die Lebensmittel ausgehen, die John fuer uns eingebunkert hatte.
Drei Tage spaeter, nach insgesamt zwei Wochen Wwoofing-Wirtschaft, kehren die Glovers endlich zurueck und uebernehmen wieder das Kommando. Endlich muessen wir uns nicht mehr um die Tiere, die Buchungen und das Kochen kuemmern. Dennoch fuehlt es sich auch ein wenig komisch an, das Ruder wieder aus der Hand zu geben: als wuerde jemand in "unser" Refugium eindringen. Immerhin bekommen wir zwei Flaschen Wein und ein paar Biskuits als Dankeschoen ueberreicht. Alkohol und Schokolade, das ist nie verkehrt, finden Debbie, James, Richard, Maria und ich. 
Und jetzt - jetzt brauchen WIR Urlaub!

1 Kommentar:

  1. Alle Achtung! Wenn man schon genügend Leichtsinn besitzt, seine Lodge 5 Backpackern zu überlassen, muß man das große Glück haben,auf so kompetente und einsatzbereite Leute wie euch zu treffen!
    Hoffentlich weiß Familie Glover das zu schätzen!

    Und jetzt habt ihr 5 euch Urlaub verdient!!
    Voll Anerkennung, deine Mama

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