Sonntag, 31. Juli 2011

Arthur's Pass und Porters

Nachdem ich in das oelschluckende Monster, das sich Auto nennt, zwei Liter Schmiere gefuellt habe, nehme ich die Strecke von Greymouth, an der Westkueste, nach Christchurch, an der Ostkueste, in Angriff. Obwohl ich schon viele Horrorgeschichten ueber "Arthur's Pass" gehoert habe ("super steil", "gefaehrliche Haardnadelkurven", "unbedingt Schneeketten!"), wage ich heute die Fahrt in Neuseelands hoechstgelegene Dorf. 
Die ersten 50km sind so flach, dass ich mich schon frage, ob ich mich verfahren habe. Dann geht es aber doch bergauf - ueber jede Menge Rollsplitt. Mein Auto schwimmt. Ich nehme die Kurven im Oma-Gang und merke, wie sich bei jeder Lenkraddrehung meine Nackenmuskeln verkrampfen. Die Seitenstrasse zum Aussichtspunkt auf ein Vidadukt ist gar nicht erst geraeumt, sodass ich auf dem Fuss/Reifen wieder umdrehe - vorsichtig und langsam, versteht sich!


Im Winterdoerfchen "Arthur's Pass" gibt es eigentlich nur ein paar Wanderwege (fallen aufgrund der Moerderblasen an meinen Hacken vom Gletschertrip flach), Cafes und die farbenfrohen, frechen Keas, die versuchen, den Touristen ihre Pies und Muffins aus der Hand zu klauen. Da man zu dem hiesigen Skifeld nur zu Fuss ueber einen anderthalbstuendigen Track kommt (in voller Montur, mit den Skiern auf dem Ruecken? No way!), gehe ich gar nicht erst das Risiko ein, hier ohne Schneeketten festzuhaengen und womoeglich noch meinen Flug naechste Woche zu verpassen, und fahre weiter.



Ab hier geht es deutlich moderater weiter. Die Strasse verlaeuft durch wuestenaehnliche Taeler, vorbei an Bergen, Fluessen und Seen: rosamundepilchermalerisch! Es herrscht so wenig Verkehr, dass ich mitten auf der Strasse anhalten, Fotos machen und ein Taenzchen auf dem winterwarmen Aspahlt wagen kann.
Unterwegs komme ich am Castle Hill vorbei - mal wieder ein Drehort aus der Narnia-Trilogie. Die Kalksteinfelsen erinnern mich mit ihren ausserirdischen Formen an die Elephant Rocks, auf denen ich mit Ruth und Patrick vor einigen Monaten rumgeturnt bin. Hier zu klettern wuerde sicher auch Spass machen, aber leider habe ich weder das passende Schuhwerk noch die passende Gesellschaft dabei.










In Springfield (ja, heisst wirklich so) buche ich zwei Uebernachtungen im "Smylies" Hostel (komische Schreibweise, ich weiss) und nach laengerem Herumfeilschen mit dem hollaendischen Herbergsvater Colin das Skikomplettpaket (Liftticket, Shuttlebus, Ausleihe von Skiern, Schuhen, Stoecken, Hose, Jacke, Handschuhen und Skibrille) zum Studentenpreis. Meinen internationalen Studentenausweis  akzeptiert er zwar nicht ("Das ist der meistgefaelschte Ausweis weltweit"), dafuer aber die Onlinesemesterbescheinigung aus Hamburg. Dann quatschen wir ein wenig ueber die Strassen, mein Auto und den anstehenden Verkauf. "Wenn ich fuer die Karre mehr als 1000$ bekaeme, wuerde ich das Geld nehmen und rennen", schlaumeiert Colin. "Aber ich habe den Wagen checken lassen - der Mechaniker meinte, ich koennte mindestens 1500$ dafuer bekommen", kontere ich. "Nee, auf keinen Fall. Glaub mir, ich hab 20 Autos im Hof stehen,. Ich weiss, wovon ich rede!" Irgendwie mag ich den Typen nicht... Wenigstens habe ich ein Sechserzimmer fuer mich allein (jetzt in der Wintersaison ist nirgendwo viel los) und lerne in der Kueche die beiden Kanadier Lydith und Simon kennen, mit denen ich Kochtipps austausche und Schokoladencookies backe.

Noch mit der Zahnbuerste im Mund fluche ich leise vor mich hin, als Colin am naechsten Morgen zehn Minuten vor Abfahrt des Shuttlebusses das ganze Hostel auf der Suche nach mir zusammenschreit. So ein Stresser kann ja kein Neuseelaender sein! 
Den Zufahrtsweg zum Skigebiet Porters haette ich zwar auch mit meinem Auto ohne Schneeketten gemeistert, dennoch bin ich froh, nicht auf der schmalen Serpentinstrasse rangieren zu muessen. Mit am Start ist das Mutter-Sohn-Gespann Jackie und Jackson (ohne Witz!), die sich jedoch den ganzen Tag ueber nur auf dem Anfaengerhuegel und im Cafe tummeln. Nach einer Probefahrt mit dem Babylift und der Erkenntnis "Ich kann's noch!" mache ich ein paar Abfahrten auf den blauen Pisten und nehme dann den naechsten Ankerlift weiter nach oben. Sessellifte oder gar Gondeln gibbet hier nich. Mir mir am Anker haengt eine nette aeltere Kiwidame, die mich ueber den Pistenrand hinaus zum Aussichtspunkt ueber das komplette Tal mitnimmt. Bombastisch! Ich kann gar nicht oft genug "wow" sagen, um diesen Anblick zu beschreiben. Und endlich - endlich! - komme ich dazu, im "Hochsommermonat" Juli einen Schneeball zu werfen!


 

 
 

Nach einigen flotten Abfahrten und einem verdienten Kakao wage ich mit geschulterten Skiern den Gang (!) ueber den Bergkamm zu "Big Mama", der einzigen schwarzen Piste im ganzen Skigebiet. Zunaechst geniesse ich noch den Blick, dann jedoch wird mir bewusst, dass es zwischen hier und dem Tal nur den direkten, steilen Weg nach unten gibt. Kommt man hier einmal aus dem Gleichgewicht, koennen einen die unten sicher in Einzelteilen wieder aufsammeln. Ganz schoen einschuechternd! 


Natuerlich kommt es wie es kommen muss: Ich bin so besorgt, dass ploetzlich gar nichts mehr klappt. Bei einer Linkskurve komme ich ins Straucheln, lehne mich zu weit nach hinten und falle. Gute 100 Meter kreisele ich den Hang hinunter. Obwohl ich versuche, die Skier Richtung Tal zu drehen, sodass ich zum Stoppen komme, ist es ein ziemlicher Kraftakt, endlich genug Widerstand gegen den lockeren Schnee zu bilden. Kurz bevor ich endlich irgendwo haengen bleibe, loest sich die rechte Bindung und der Ski flitzt davon. Vorsichtig checke ich alle Gliedmassen auf Vorhandenheit und Verrenkungen. Alles noch dran, alles noch bewegbar. Ein anderer Skifahrer fragt, ob er mir helfen kann, raet mir aber dazu, von hier aus zu Fuss hinabzusteigen, da ich bei einer 40 Grad Steigung sowieso nicht wieder in die Bindung reinkomme. Rueckwaerts und auf allen Vieren die Piste hinunterstapfend naehere ich mich meinem verloren gegangenen Ski. Nach schnaufenden funef Minuten und positiver Selbstinstruktion klickt endlich die Bindung und ich stehe mit zitternden Knien wieder auf den Brettern. Endlich kommt eine andere Skifahrerin vorbei und gluecklicherweise auch noch ein Guard! Gemeinsam meistern wir in grossen Boegen den Rest von Big Mama. Gegen den Sicherheitszaun gelehnt schnaufe ich erst mal durch, trinke einen Schluck und rede mir gut zu. Demotiviert drehe ich einige Runden auf dem Anfaengerhuegel und gewinne langsam wieder an Selbstsicherheit. Zum Abschluss des Tages mache ich zwei entspannte Abfahrten auf meiner Lieblingspiste und entscheide, dass mir ein Tag Skifahren auf Neuseelands Pisten gereicht hat...


Mittwoch, 27. Juli 2011

Franz Josef Glacier

Fuer die heutige Tour habe ich einiges investiert: 170$ plus etwa nochmal so viel Spritgeld. Weil das Wetter vor anderthalb Wochen, als ich mit Sun in der Naehe der Gletscher war, unter aller Sau war, bin ich die komplette Westkueste einmal rauf und wieder runter gefahren, um ein bisschen Schlechtwetterzeit zu vertroedeln. Nicht sehr oekonomisch, dafuer aber ambinioniert, finde ich. Heute ist es endlich soweit: Strassen- und Wetterdienst haben blauen Himmel und Sonnenschein fuer das ganze Wochenende angekuendigt und ich bin zur richtigen Zeit am richtigen Ort. 
Um 8.15 Uhr laufe ich zum Tourioffice, um mit Regenhose, -jacke (das ist ja nun wohl nicht noerig, oder?), Handschuhen, Wanderstiefeln, Spikes und sogar Socken ausgestattet zu werden. Ausserdem bekomme ich ein Nummernschild um den Hals gehaengt - mein Identifikationsausweis im Falle einer Notsituation. 
Mit dem Bus werden gut 40 blaubemantelte Ausfluegler zum Ausgangspunkt fuer die Tageswanderung auf dem Franz Josef Gletscher gekarrt. Neben dem nahegelegenen Fox und einem Gletscher in Suedamerika ist dies der einzige Ort der Welt, wo Eis und Schnee ganzjaehrig und direkt an den Regenwald ranreichen. Nach einem kurzen schweigsamen Massenmarsch durch den Busch folgt der Moment der Wahrheit: Die Guides wollen uns in drei Gruppen mit unterschiedlicher Laufgeschwindigkeit aufteilen, um zu verhindern, dass der Opi und die Schwangere dem Bundeswehrsoldaten hinterherhinken. Fuer die "schnelle" Gruppe melden sich im ersten Anlauf gerade mal acht Leute. "Come on, guys", versuchen die Guides unseren inneren Schweinehund anzustacheln, "it won't be toooo bad, no worries" (wie oft habe ich das schon gehoert?)... Grundsaetzlich hat man in kleineren Gruppen ja meist mehr Spass, denke ich mir, und ausserdem komme ich dann hoeher hinauf, ins Eis. Nagut, ich melde mich freiwillig, was meinen Guide Nick sichtlich zufrieden stellt. Mit seinen neun Gefaehrten hat er heute Grosses vor, verspricht er. Ich glaube ihm aufs Wort, als er bereits beim Gang durch das felsige Gletschertal ordentlich Tempo macht. Klar, wir muessen ja erstmal einen Vorsprung erreichen. 




Nach dem Auftakt-Aufstieg verabschiedet sich dann bereits das erste Paerchen. Die beiden Englaender wollen lieber mehr Zeit zum Fotos schiessen haben und mit einer langsameren Gruppe laufen. Jetzt oder nie, denke ich mir. Entweder du ziehst mit oder du bleibst bei deinem wagemutigen Entschluss. "And then, there were seven", zitiert unser Guide bedeutungsschwanger und nimmt mir die Entscheidung ab.
Als naechstes muessen wir unsere Spikes anschnallen, die uns auf dem Eis Halt geben sollen. "Geht erstmal ein wenig vorsichtiger, breitbeinier als gewoehnlich. Wenn ihr sofort hinfallt, nimmt euch das euer Selbstbewusstsein fuer den ganzen Tag." Oha. Die ersten Schritte sind tatsaechlich ungewohnt und ein bisschen wackelig. Am meisten machen mir aber die gefuehlt drei Kilo schweren Wanderstiefel zu schaffen, die mit unbarmherziger Gleichmaessigkeit an meinen Hacken reiben. Die wollenen Socken sind dabei nicht wirklich von Vorteil. So ein Mist, und ich dachte doch tatsaechlich, es waere schlau, auf meine eigenen Wandersocken zugunsten der erprobten Gletscherware zu verzichten. Nix da, Nina, denke ich mir, Rumheulen ist jetzt nicht, dadurch wird's auch nicht besser...


Ueber ins Eis gehauene Stufen kraxeln wir berg- bzw. gletscherauf. An jedem Handlauf und jeder Seilbruecke muss Guide Nick die Schraubhaken umsetzen, um zu geaehrleisten, dass alles "safe/sweet as" ist. Pro Haken dauert das etwa ein bis zwei Minuten. Wenigstens ein bisschen Zeit zum Verschnaufen, Fotosschiessen und Loswerden diverser Schichten Funktionskleidung. Als erstes schaele ich mich aus der schlecht sitzenden Leihjacke und den Handschuhen. Schon jetzt, um halb elf, scheint die Sonne heftig und warm auf unsere bemuetzten Haeupter.




Die erste echte Herausforderung ist eine flache Aushoehlung im Eis, durch die wir uns auf dem Ruecken liegend durchschieben sollen. Ich ahnte es ja bereits: Jede dieser Touren muss anscheinend einen gewissen Anteil an Mut und Ueberwindung beinhalten. Ich bin als erste an der Reihe. Einmal in der Hoehle, ist die Vorstellung, von Eis umgeben zu sein, ploetzlich gar nicht mehr so bedrueckend. Durch das hellblaue Licht wirken Waende und Decke ueberhaupt nicht einschuechternd oder beklemmend sondern einfach nur surreal schoen.




Mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht und vor Freude leuchtenden Baeckchen folge ich Nick nun auf Schritt und Tritt - zumindest solange, bis unsere Reinkarnation eines Marathonlaeufers geklont mit einem Schneehasen in einem solchen Tempo durch den Schnee hopst, dass ich nur noch mit Muehe mithalten, geschweige denn eine Unterhaltung fuehren kann. Mit rasselndem Atem hebe ich die inzwischen gefuehlt tonnenschweren Schuhe, die hier im Neuschnee richtig schoen tief einsinken. Trotz des Eispickels, mit dem wir auf halber Strecke ausgestattet wurden, ist es unheimlich muehsam, sich hochzudruecken.
Nach der naechsten Hoehlendurchquerung - dieses Mal ein sechs Meter langer Tunnel mit zirkelkreisrundem Ein- und Ausstieg - merkt Nick endlich, dass er einen Gang runterschalten muss, wenn er seine sieben Gefaehrten behalten will. Zum Glueck stoppen wir wenig spaeter, nachdem wir uns unseren Weg durch einige durchsichtig glitzernden Gletscherspalten gebahnt haben, fuer eine kurze Lunchpause auf einem Schneeplateau. Obwohl ich nicht wirklich grossen Hunger habe, stopfe ich lustlos ein Stueck kalte Pizza vom Vortag und einen Apfel in mich rein und lasse zum Nachtisch einen lockeren Klumpen Schnee auf meiner Zunge schmelzen. Die Eiskristalle sind so scharf, dass ich mir daran fast den Gaumen aufschneide. 








Von hier an zeigt sich Nick deutlich entspannter. Ueber Funk hat er durchgegeben bekommen, dass die anderen Gruppen weit hinter uns zurueckgeblieben sind. "So soll es sein", markiert er den Macker. Dennoch will er noch hoeher hinaus. Der aktuelle Gletscherzustand scheint etwas Besonderes zu sein. Das Eis, in das wir hier unsere Spikes und Pickel schlagen, ist maximal 50 Jahre alt, andere Stellen gerade mal wenige Tage. Durch riesige Schneemassen, die 11km weiter oben losgeloest werden, formt sich der Franz Josef Gletscher immer wieder neu. Selbst unser Guide mit zweieinhalbjaehriger Erfahrung auf der sich stetig bewegenden Eismasse gibt zu, dass er ganz heiss darauf ist, sich die neuesten Formationen anzuschauen. Dennoch muessen wir besonders vorsichtig sein, da sich unter der jungfraeulich prudrigen Schneedecke riesige Gletscherspalten, Hoehlen und Abgruende verbergen koennen.  
Immer weiter, immer hoeher hinaus kraxeln, kriechen, marschieren wir; beinahe erobern wir sogar die flache Ebene, auf der die Helikopter landen. Eindringlich warnt Nick uns davor, vom Trampelpfad abzukommen oder gar irgendwelche Alleingaenge zu unternehmen. Bevor ich unter einem blaeulich schimmernden Eisbogen fuer ein Foto posieren darf, checkt Nick mit Axt und Pickel, ob alles einsturzsicher ist. Auch meine Lieblingsformation, eine herzfoermige Ausbuchtung im Eis, durch die die Mittagssonnenstrahlen einfallen und den Schmelzprozess unnachgiebig voran treiben, muss erst mal vorsichtig erkundet werden. Nachdem Nick sein "OK" gegeben hat, darf ich hinaufklettern und das wunderschoen vergaengliche Naturschauspiel bewundern. Mein zweitliebstes Motiv sind die Wellen an glitzerndem Schnee, die mit dem schmalen Wolkenteppich am fernen Horizont zu verschmelzen scheinen. 









Auf dem Rueckweg nehmen wir die schnellspassige Variante und rutschen auf dem Popo eine Eisbahn runter. Nick hat dabei die groesste Freude, sich ueber meine Koordinationsschwaeche lustig zu machen, waehrend die beiden Englaender uns mit ihrer besonderen Fotopose unterhalten. Wie ich erwartet hatte, ist die Stimmung in einer kleinen Gruppe viel persoenlicher und lockerer - das merke ich vor allem, als wir beim Gang talwaerts auf die "langsame" Japanergruppe stossen, die stumm und schuechtern laechelnd fuer das dreihundertste Victoryfoto posieren. Der andere Guide rollt genervt die Augen und staunt nicht schlecht, als er hoert, wie weit hinauf wir gekommen sind. "Meine Gruppe hat den ganzen Gletscher erkundet", prahlt Nick, "die sind marschiert wie die Weltmeister". Na, das hoert man gern. Bergab bewegen wir uns noch schneller und haben somit noch Zeit, um eine Lawinenschlucht, ein durchloechertes Hoehlensystem und einen Gletscherbach mit glasklarem, Gehirnfrost provozierendem Eiswasser auszuchecken. Gierig trinke ich ohne die Flasche abzusetzen und merke dabei, wie sehr mein Gesicht glueht und meine Beine zittern. Mannomann, das war ein ganz schoen anstrengender Tagestrip - aber mit Sicherheit der beste, den ich hier in Neuseeland gemacht habe. Zufrieden, mir dieses Sahnestueckchen bis zum Schluss meiner Reise aufgehoben zu haben, schaele ich mich aus den durchgeschwitzen Klamotten und den Wanderstiefeln, die von meinen Hacken ein ganzes Stueck Haut mit runterziehen. Ahhhhh, ein herrlicher Schmerz - da weiss man doch, dass man was getan hat!








Samstag, 23. Juli 2011

Karamea

In Karamea, dem noerdlichsten Dorf an der Westkueste, ist der Hund begraben.
Koennte man meinen, wenn man auf dem Weg dorthin nicht ein einziges Mal anhaelt, um irgendein tolles Naturschauspiel zu bewundern; wenn man definitiv seine Lebensmittelvorraete aufstocken muss, sofern man nicht unbedingt scharf darauf ist, im Tante-Emma-Laden Brot, Milch und Tomaten zum dreifachen Preis zu kaufen; oder wenn man im Hostel sowohl vom Manager als auch allen drei Wwoofern ueberschwaenglich mit den Worten "Oh wow, we have a guest!" besgruesst wird. Gerade als ich mich frage, ob es sich tatsaechlich gelohnt hat, die 100km Richtung Norden in eine Sackgasse zu fahren, muss ich feststellen, dass der Hund wohl doch von den Toten auferstanden ist. Der schwarzweissgemusterte Herdencollie "Moo" wedelt mir zunaechst freundlich entgegen, schmeisst sich dann aber auf den Ruecken, als Herbergsvater Paul drei Mal laut "peng!" ruft. Grinsend erkunde ich den Rest von Rongos Backpacker. An allen Waenden, auf Staffeleien, Klodeckeln und Tuerrahmen haengt, klebt, baumelt Kunst. Und zwar pippilangstrumpfvillakunterbunte Kunst.  Obendrein gibt es ein kleines Tonstudio, von dem aus auf eigener Radiofrequenz tatsaechlich Programm ausgestrahlt wird. Ohne grosses Trara kann ich direkt meinen MP3-Player anstoepseln und loslegen. Dass meine erste Erfahrung als Radiomoderatorin so aussehen wuerde, haette ich nicht vermutet! Zur Feier des Tages (nochmal auf deutsch: Wir haben einen zahlenden Gast!) kocht der japanische Wwoofer/Hauskuenstler/Strahlemann Shota ein Curry fuer die beiden anderen Zimmermaedchen Karry (Australien) und Claudia (Deutschland) und mich.








Obwohl ich mir nach einer kalten und zugigen Nacht mit undichten Fenstern, einem nur maessig aktiven Heizstrahler und einer laecherlich duennen Decke geschworen hatte, heute weiter bzw. zurueck zu fahren, lasse ich mich im Laufe des Tages doch noch ueberreden, zu verlaengern. Und das kam so:

Weil ich meinen Handywecker im Auto vergessen habe, schlafe ich bis in die Puppen und verpasse somit die "Checkout time" um hoffnungslose 30 Minuten. Nachdem ich auf dem Kuhfleckensessel gefruehstueckt habe, schleppt Shota zwei defekte Gitarren an, aus denen ich eine funktionierende basteln soll. Also: Saiten aus der Gitarre mit dem kaputten Stimmraedchen raus und in die Gitarre mit dem unvollstaendigen Set rein. DANN feststellen, dass letzterer Klangkoerper durch Feuchtigkeit voellig verzogen und nur noch als Feuerholz geeignet ist. Somit: Saiten wieder zurueck und versuchen, das Stimmraedchen zu reparieren. Nach einer Stunde Fummelei entnervt die Brocken hinschmeissen. Immerhin habe ich so waehrend deftiger Regenschauers ein wenig Zeit vertroedelt.
Gegen Mittag breche ich endlich auf, um mir die Kalksteinboegen des Oparara Basins anzuschauen. Begleitet werde ich dabei von Claudia, die froh ist, jemanden mit mobilem Untersatz zu treffen. Ueber eine ziemlich enge und sehr holprige Strasse voller rutschiger Kiesel erreichen wir mit flauem Gefuehl im Magen den Parkplatz beim Moria Gate Arch. Es regnet. Mal wieder. Aber im dichten Blaetterwald ist es ja sowieso dauerfeucht. Durch einen winzigkleinen Hoehleneingang klettern wir in die Kalksteinhoehle und bleiben ehrfuerchtig vor dem grossen Bogen stehen, durch den Licht - aber kein Regen - in den natuerlichen Unterschlupf faellt.
Den 37 Meter hohen Oparara Arch hingegen bemerke ich erst, als Claudia Richtung Himmel deutet - so weit oben schwebt der Kalksteinbogen mit dem schwindelfreien Parasitenbuschwerk. Toll, toll, toll!

im Fluss

Moria Gate Arch

Hoehlenmensch

Oparara Arch

Kalkstein

Am naechsten Tag breche ich dann aber wirklich meine Zelte ab - auf Dauer ist es mir hier einfach zu kalt und ungemuetlich, da koennen die mickrigen Flaemmchen im Holzofen auch nichts dran aendern. In der unattraktiven Stadt Westport stoppe ich kurz bei der Bibliothek (kostenloses Internet), Tankstelle (kostspieliges Bezin) und einem Cafe (koestliches Backwerk), bevor ich die Kuestenstrasse Richtung Greymouth nehme. Innerlich freue ich mich schon darauf, nochmal eine Nacht in meinem Lieblingshostel, dem freundlichen Global Village, zu uebernachten, und auf das vorhergesagte gute Wetter fuer's Wochenende. Langsam klart sogar der Himmel ein wenig auf.
Bei einem Aussichtspunkt entlang der Strecke springe ich wie gewohnt leichtfuessig, mit Kamera und Schluessel in der Hand aus dem Auto, um einen kurzen Fotostopp einzulegen. Aus irgendeinem Grund drehe ich mich dieses Mal noch kurz um - und sehe mein Auto auf den Abhang ueber der Steilkueste zurollen! In einer Millisekunde entscheide ich, dass mir nicht genuegend Zeit bleibt, um die dauerklemmende Fahrertuer aufzuschliessen und die Handbremse (fester?) anzuziehen. Also werfe ich mich mit aller Kraft vor die Motorhaube, um das Fahrzeug zu stoppen. Klappt natuerlich super... Laut fluchend sehe ich im Geiste mein Auto bereits die Klippe ins Meer hinuntersegeln. Doch dann bleibt es - uff, welch ein Glueck - in den Straeuchern haengen, die die letzte Barriere vor dem Abhang bilden. Eine Frau, die drei Meter entfernt am Picknicktisch gesessen hat, ist aufgesprungen und schaut ziemlich geschockt, als ich - unversehrt aber voellig durch den Wind - wuetend wie Rumpelstielzchen um mein Auto huepfe und meinen Frust rausbruelle. Auf meine Bitte, dem Wagen von vorn einen kleinen Stupser zu geben, sodass ich zuruecksetzen kann, ohne dass die Reifen auf dem feuchtschlammigen Untergrund durchdrehen (nein, Fussmattentrick bringt mich hier nicht weiter), reagiert sie entsetzt: "There's no way that I get between your car and the cliff!" Ja, danke, andere Vorschlaege? Ja, die hat sie. Ich solle vom naechsten oeffentlichen Telefon den neuseelaendischen Automobilclub anrufen und mich abschleppen lassen. Okay, ich geb's zu, hoert sich vernuenftig an. Gerade, als wir uns mit ihrem Auto auf den Weg machen wollen, haelt ein weiterer (Katastrophen-)Touri beim Lookout und fragt mich doch tataechlich, ob er ein Foto machen kann. Keine einzige Frage zu meinem Befinden oder das Anbieten von Hilfe! Nicht zu fassen. So selten ich in Stresssituationen genau das Richtige sage oder tue (wenn die Karre rollt, dann rollt sie, mit Maedchenmuskelpower ist da nicht mehr viel aufzuhalten!), dieses Mal platzt die einzig richtige Antwort nur so aus mir heraus: "NO, certainly not! Unless your mobile has reception or you have some good advise how I can get my car out of the dirt, you should better f*** off, you prick!!" Der Vollidiot schluckt einmal, und knipst dann unbekuemmert weiter, so als haette ich ihn eben hoeflich gebeten, die Situation dokumentarisch auf Polaroid festzuhalten. Trotz der kurzen Ueberlegung, den Lackaffen eigenhaendig die Klippe runterzuschubsen, besinne ich mich anders und lasse mich von der anderen Augenzeugin zum Parkplatz bei den Pancake Rocks fahren.
Der AA wiegelt meinen Hilferuf sofort ab ("No breakdown? In that case it's not our responsibility, even though you're a member.") und auch die Versicherung wuerde allenfalls auf meine Kosten ein Abschleppunternehmen herbeordnern ("Sorry, mate, but you only have a third party insurence. Since there is no other car involved, we cannot cover for the costs."). Bevor ich dafuer mein OK gebe, bitte ich mit waessrigen Augen im Umwelt-Center um Hilfe. Und hier treffe ich endlich auf meinen Rettungsengel (dieses Mal nicht ADAC-gelb sondern DOC-gruen). Tim, ein langer, aelterer Herr in Shorts und T-Shirt, stellt keine bloeden Frage. Kurzentschlossen faehrt er mich mit seinem Pickup zurueck zur "Unfallstelle", befestigt ein Abschleppseil an meiner Stossstange und zieht kurz vor Einbruch der Dunkelheit die Karre aus dem Dreck. Gott sei Dank! Das waere ja ein Spass gewesen, hier draussen zu campen. "Thank you so much, Tim", atme ich erleichtert aus. "You saved my car - and you saved me!"

Vorsatz fuer's neue Jahr!